Jean Perrin wird am 17. September 1829 in Lausanne am Genfersee geboren. Sein Vater Marius, der einer alt eingesessenen Waadtländer Familie entstammt, ist Historiker und vor allem im Unterricht tätig. Die Mutter Julia, geborene Rathgeb, stammt aus Zürich; sie ist die erste, die ihren Sohn ans Klavier setzt. Schon als Fünfjährigen nimmt sie ihn mit an Konzerte und macht ihn früh mit der Kunst von Walter Gieseking, Alfred Cortot, Clara Haskil oder Arturo Toscanini bekannt. Im Alter von acht Jahren wird der Junge Marie-Lise Moser anvertraut, die ihn unterrichtet, bis er ins Konservatorium eintritt. Seine neue Lehrerin, Geneviève André-Court, ist eine anspruchsvolle, kultivierte Frau, die kühne und häufig zu schwierige Programme für ihn zusammenstellt … zur grössten Freude ihres Schülers! 1940 erwirbt er das Lehrdiplom, während er gleichzeitig sein Studium der Geisteswissenschaften an der Universität fortsetzt (das er 1944 mit einem Lizenziat abschliesst). Nun besucht er die Solistenklasse von Charles Lassueur, einem der bekanntesten Musikprofessoren seiner Zeit, Schüler von Isidor Philipp in Paris: Fraglich, ob seine Schule der reinen Fingertechnik dem jungen Mann wirklich behagt … Perrin versucht sein Glück bei Johnny Aubert, Lehrer der höheren Klassen am Genfer Konservatorium, der für seine Interpretationen von Schumann und Liszt bekann ist: Auch hier stimmt die Chemie nicht, denn Aubert findet nicht das Repertoire, welches das Talent des Studenten zur Entfaltung bringt. Erst in den letzten Kriegsjahren öffnen sich endlich künstlerische Horizonte, die Perrins tiefem Bedürfnis nach Schönheit entsprechen. Zu diesen «Offenbarungen» gehört die von Franz Josef Hirt verkörperte Kunst. Hirt, Erbe von Clara Schumann durch seine Mutter und von Hans Huber, Egon Petri (dem Assistenten von Ferruccio Busoni) und Alfred Cortot durch sein Studium, bildet die Synthese dieser verschiedenen Einflüsse und bietet Perrin genau die Nahrung, die ihm fehlte. Von 1943 bis 1945 vermittelt er ihm am Konservatorium von Bern sein Wissen. Diese fruchtbare Zeit in der Deutschschweiz ist von einem weiteren Lehrer geprägt: Edwin Fischer. Der in Hertenstein am Vierwaldstättersee ansässige Berliner Pianist, Schüler von Martin Krause in Berlin (seinerseits Schüler von Franz Liszt, dem direkten Erben von Carl Czerny), hat sich als einer der ersten für eine historisch informierte Aufführungspraxis der Barockmusik interessiert. Perrin lernt Fischer bei seinen Konzerten in Lausanne kennen, doch er profitiert vor allem bei seinen berühmten Kursen in Luzern von seiner Kunst. In die Jahre 1947 und 1948 fallen eine neue Reihe von Entdeckungen sowie mehrere Parisaufenthalte. Perrin konfrontiert dort seine ersten Kompositionen mit der kompromisslosen Ästhetik von Marius Milhaud: eine völlig andere Sichtweise der Musik als die seine, die bisher vom rein analytischen Ansatz Alexandre Denéréaz’ geprägt war, seines Lehrers am Konservatorium von Lausanne, eines direkten Erben der grossen Wagner’schen Tradition. Dieser heilsame «Schock» ist von einer nicht weniger wichtigen Begegnung begleitet: derjenigen mit Nadia Boulanger, die seine natürliche Faszination für die Musik von Strawinsky noch verstärkt. Auch wenn sich in der französischen Hauptstadt sein Interesse mehr und mehr zum «Herzen» der Musik – zur Komposition – hin verlagert, vernachlässigt Jean Perrin das Klavierstudium keineswegs: Er nimmt Unterricht bei Yves Nat, einem Schüler von Louis Diémer, der ihm insbesondere die Kunst des Fingersatzes und eine harmonische Vision der Romantiker vermittelt, allen voran Beethoven und Schumann. Perrin wird selbstsicherer. Seine 1943 beim Concours de Genève gewonnene Medaille zeigt, dass er zu den ernst zu nehmenden jungen Künstlern der neuen Generation gehört. Er ist sich jedoch bewusst, dass er nie eine Karriere als grosser Virtuose führen wird: Andere Arten, die Musik – seine Musik – zu übermitteln, rufen ihn. Er beginnt gleich nach Studienabschluss zu unterrichten, zunächst als Assistent seiner ehemaligen Lehrerin Geneviève André-Court am Konservatorium von Lausanne, später als Lehrbeauftragter und ab 1951 als Professor für Klavier, einen Posten, den er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1985 behält. Parallel dazu übernimmt er die höhere Klavierklasse am Konservatorium von Sion, das er 1949 mitbegründet hat. Dank seinem wohl von den Perrins geerbten Schreibtalent beginnt er sehr früh, Musikkritiken in der Tagespresse zu schreiben. So verfasst er schon in den Vierzigerjahren Kritiken für die Tribune de Lausanne, zu der ihn Aloÿs Fornerod geholt hat, bevor er zur Gazette de Lausanne wechselt, wohin ihm sein Freund, der Komponist Jean Balissat, folgt. Von 1962 bis 1985 redigiert er die Programme des Orchestre de Chambre de Lausanne. Jean Perrin greift schon als ganz junger Mann, in der Abgeschlossenheit seines Zimmers, zu Stift und Notenpapier. Die Komposition ruft ihn instinktiv, doch es dauert seine Zeit und braucht die Aufmerksamkeit treuer Freunde, bis er aus dem Schatten ans Licht tritt. Das erste Werk aus seiner Feder ist ein Oratorium für Tenor, Bass, Männerchor und Orchester mit dem Titel Les Perses, nach einer französischen Übersetzung des gleichnamigen Textes von Aischylos. Es wird 1943 fertig gestellt und im darauffolgenden Jahr im intimen Rahmen der Salons der Guilde du Livre in Lausanne in Form einer «Probefassung» für Stimme und Klavier vorgetragen. Dann herrscht beinahe ein Jahrzehnt lang Schweigen. Perrin komponiert weiterhin, doch er scheint es nicht eilig zu haben, an die Öffentlichkeit zu treten. Erst 1952 lüftet er auf Drängen seiner Lehrerkollegin, der Pianistin Denise Bidal, den Schleier und präsentiert den Mitarbeitern des Konservatoriums von Lausanne die ersten Noten – seine ein Jahr zuvor geschriebene Sérénade Op. 3. Die Pianistin ist begeistert und führt das Abenteuer weiter: 1954 lädt sie ihn ein, in der Konzertreihe «L’Atelier», die sie kürzlich gegründet hat, an der Seite von Robert Faller seine Sonate für Horn Op. 9 vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit erscheinen die ersten bedeutenden Kritiken, wie die von Henri Jaton im Feuille d’Avis de Lausanne, in der zahlreiche Merkmale hervorgehoben werden, die Jean Perrins Musik auch in Zukunft charakterisieren werden, unter anderem die Tendenz, das Klavier wie ein Orchester zu behandeln, und der beinahe verbissene Wille, die «abgegrenzten» Wege der Moderne um jeden Preis zu umgehen. Nächste Etappe: Am 25. Februar 1955 findet im Saal des Konservatoriums das erste ausschliesslich seiner Musik gewidmete Konzert statt. Auf dem Programm stehen drei Sonaten: Neben der Sonate für Horn stellt Perrin die Sonate für Violine (Op. 8) und die Sonate für Klavier solo (Op. 10) vor, die ihm insbesondere das Lob und wertvolle Ratschläge von Alfred Cortot verschafft und 1980 auf Anregung des Pianisten Jean-François Antonioli gründlich überarbeitet wird. Die Maschine kommt ins Rollen. Wenn das Genre der Kammermusik das ungezügelte Wüten seines Instinkts zu kanalisieren vermag, so ist es für Jean Perrin klar, dass er auf dem Gebiet des Orchesters noch viel zu lernen hat. Mit bewundernswürdiger Demut beschliesst er mit beinahe 35 Jahren, in Begleitung seines Freundes Jean Balissat nochmals die Schulbank zu drücken; Balissat, der ihn fortan auf seinem «Kreuzweg» eines Schöpfers begleiten und ermutigen wird, hat wohl viel zu diesem Entschluss beigetragen. Ihr Lehrer am Konservatorium in Genf, André-François Marescotti, ist eine herausragende Persönlichkeit in der Genfer Musiklandschaft. Der Schüler von Roger Ducasse (seinerseits Lieblingsschüler von Fauré) in Paris und Verfechter der Zwölftonmusik ist ein grosser Spezialist der Orchestrierung, eine Kunst, von der seine beiden Schüler ausgiebig profitieren werden. Das erste Experimentierfeld für Jean Perrin, das Concerto grosso für Klavier und Orchester Op. 6, zeigt deutlich, wie vorteilhaft es ist, das Getriebe des Orchesters von Grund auf zu kennen. 1952 in seiner ersten Version (Op. 6a) fertig gestellt und drei Jahre später auf den Rat Marescottis überarbeitet, ist es das erste Werk Perrins, das von einem Orchester aufgeführt wird: Am Pult steht Victor Desarzens, der Gründer des Orchestre de Chambre de Lausanne. Die Begegnung ist der Ausgangspunkt für eine äusserst fruchtbare Zusammenarbeit, die mehr als zwanzig Jahre dauern wird und 1971 mit De Profundis Op. 26, einem als Hommage für seine Mutter komponierten Werk, ihren Höhepunkt erreicht. Jean Perrin lässt sich beim Komponieren von seinem Instinkt leiten, doch er nährt sich auch von seinen künstlerischen Begegnungen und Freundschaften. So sind die meisten der ab den Fünfzigerjahren geschriebenen Werke mit einer Persönlichkeit verbunden. Zu den bedeutungsvollsten gehören der Cellist Guy Fallot, ein grosser Verehrer der Sonate Nr. 11, die er bei Philips aufnimmt; der Dirigent Jean-Marie Auberson, der ihm mit Mouvement symphonique Op. 13 die Türen zum Orchestre de la Suisse Romande öffnet; das Blechbläserquartett der Tonhalle Zürich, das er 1962 anlässlich der Aufnahme des Concerto grosso unter der Leitung von Charles Dutoit kennen gelernt hat und das der Auslöser für das Quartett für 2 Trompeten und 2 Posaunen Op. 21a ist (das erste Werk von Jean Perrin, das verlegt wird); der Cellist Marçal Cervera, der Perrin 1972 bei der Entstehung des Cellokonzerts Op. 27 eng begleitet; der Saxophonist Iwan Roth, dessen virtuoses Spiel ihn zum Duo concertante Op. 31 und zum Quartett für Saxophone Op. 40 inspiriert; die Pianistin Brigitte Meyer, seine junge Kollegin am Konservatorium von Lausanne, für die er 1978 sozusagen nach Mass das Klavierkonzert Op. 41 schreibt; der Pianist Jean-François Antonioli, dem er in den frühen Achtzigerjahren seine 6 Préludes Op. 45 schenkt, zum Dank dafür, dass er ihn (unter anderen) dazu ermuntert hat, sich neu zu entdecken und über sich selbst hinauszuwachsen; oder das Quatuor Sine Nomine, das kurz nach seinem Tod im Jahr 1989 ein direkt vom Spiel des Ensembles inspiriertes Streichquartett (Op. 53) zur Uraufführung bringt. Gegen Ende seines Lebens erfolgt eine späte, jedoch aufrichtige Anerkennung auch von offizieller Seite. So geben die wichtigsten Musikinstitutionen, die bisher nur mässiges Interesse für ihn gezeigt haben, eine Reihe von Werken bei ihm in Auftrag: 1987 komponiert Perrin für die Universität Lausanne zu deren 450-jährigem Bestehen ein Introitus für Orchester (Op. 52); 1985 schreibt er für seinen ehemaligen Arbeitgeber, das Konservatorium von Lausanne, anlässlich des 125-jährigen Bestehens der Institution Secundum Paulum Op. 51 und 1989 zur Einweihung von deren neuem Gebäude Cantosenhal Op. 54 (1990 posthum uraufgeführt); 1986 ersucht ihn der Internationale Violinwettbewerb Tibor Varga von Sion, ein Violinkonzert in zwei Sätzen zu schreiben, das als Pflichtstück dienen soll (Op. 49). Weiter ist die Musik zu erwähnen, die er 1983 für den dem Dichter Gustave Roud gewidmeten Dokumentarfilm Port-des-Prés von Pierre Smolik komponiert und die er nachträglich in eine Orchestersuite mit dem Titel L’Adieu au poète Op. 46b umwandelt. Jean Perrin stirbt am 24. September 1989 in der gleichen Wohnung, in der er neunundsechzig Jahre früher geboren wurde. Er hinterlässt einen Katalog von etwa 50 Werken, der noch ganz zu erschliessen ist. «Zu den Werken, die seiner eigenen Meinung nach am charakteristischsten für seine Kunst sind, gehören das Cellokonzert Op. 27 (1970), dessen Solistenpart ganz frei von Effekten ist, die Sinfonie Nr. 3 Op. 24 (1966), ein Schlüsselwerk, in dem der Wunsch des Komponisten erkennbar ist, aus sich herauszugehen, die Klaviersonate Op. 10 (1954/1980), eines der repräsentativsten Stücke unter den älteren Werken, das Quartett für Klavier und Streicher Op. 23 (1965), ein dichtes Stück voll fremdartiger Elemente, sowie die Marche funèbre für grosses Orchester Op. 38 (1978), ein Stück, das dem romantischen Expressionismus nah ist», wie Jean-François Antonioli 1982 in der Einleitung zum ersten Werkkatalogs schreibt. Bleibt nur noch, diese Werke bekannt zu machen … Jean Balissat: «Perrins Musik verlangt von dem, der ihre Bedeutung wirklich erfassen und übermitteln will, einen langen Reifungsprozess. In einer Zeit, wo der Ertrag an oberster Stelle steht, wird eine solche Methode immer schwerer anwendbar. Denn sein Werk existiert zwar, und das ist die Hauptsache, doch es muss ihm auch die Möglichkeit gegeben werden, in uns zu leben.» Das ist auch heute noch das wichtigste Anliegen derer, die sich für Jean Perrins Werk einsetzen, angefangen bei der Stiftung mit seinem Namen, die kurz nach seinem Tod aus der Taufe gehoben wurde. Überlassen wir das Wort dem Musiker – und begabten Schreiber –, und lesen wir, wie er selbst (in einem in der Zeitschrift Repères 1981 erschienenen Artikel) seine Kunst und seine musikalischen Einflüsse umreisst: «[…] ich bin ein Klassiker und vor allem ein Romantiker geblieben in einer Zeit, wo das unüblich ist. Die Vergangenheit ist keine archäologische Kuriosität, sie gehört zu unserer Gegenwart: Sie hat uns bereichert und geprägt, sie nährt uns immer noch jeden Tag, ist in uns selbst enthalten, mit einer immer neuen Gegenwart, die hinzukommt und sogleich Vergangenheit wird. Seit meiner Kindheit haben mich Hindemith, Bartók und vor allem Strawinsky stark geprägt. Und auch Berg, der einer expressionistischen Seite meines Wesens entspricht. Doch gleichzeitig sind eine Passion oder das Wohltemperierte Klavier von Bach, eine Sonate oder ein Quartett von Beethoven, ein Konzert von Mozart, ein Lied oder ein Klavierwerk von Schumann, Schubert oder Brahms, ein Lied von Mahler oder eines der späteren Werke von Fauré so sehr ein Teil meiner Welt, dass die Vorstellungen von Zeit und Raum keinen Einfluss auf die Werke haben, wenn ich sie spiele oder höre. Oder vielmehr erhält der Zeitbegriff einen anderen Gehalt, eine andere Perspektive, eine andere Tiefe. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich schreibe: Um aus mir selbst herauszugehen, und paradoxerweise auch, um in mich hineinzugehen, indem ich dieses andere Zeitmass, das wie ein Gleichgewicht zwischen dem Leben und dem Tod schwebt, lebe, so gut ich es vermag. Es geht nicht darum, seiner Zeit zu entfliehen, sich all den faszinierenden und glücklichen oder auch bedrückenden Momenten zu entziehen, die sie uns beschert, sondern durch diese äusseren Vibrationen (die uns bisweilen hart treffen) jenen geheimnisvollen Punkt der Begegnung zu spüren, der jedem von uns innewohnt und der unsere geistige Erfahrung des Lebens ermöglicht, indem er ergänzende und bisweilen gegensätzliche Kräfte miteinander verbindet. Dass ich häufig eine tonale Musik schreibe, manchmal auch eine atonale oder polytonale, mit Elementen aus der seriellen Musik, ist ein Problem technischer Art. Alle Kompositionsarten sind möglich, denn die Einheit existiert über die Verschiedenartigkeit hinaus. Das echte Problem, das moralischer und psychologischer Art ist, bleibt für den Komponisten und für jeden von uns seine innere und einzige Realität. © Antonin Scherrer, traduction de Gabriela Zehnder
|